Stadtentwicklung

300.000 Quadratmeter und kein Supermarkt?

Was folgt auf die Nixdorf-Fabrik? Das Immobilienunternehmen Coros will auf dem AEG-Gelände an der Gustav-Meyer-Allee in den nächsten Jahren das Quartier am Humboldthain bauen. Der Eigentümer hat auch Anwohner nach ihren Ideen gefragt. Einige nehmen das Angebot ernst und wollen mitreden.

Die ehemalige Nixdorf-Fabrik an der Gustav-Meyer-Allee wird abgerissen. Hier entsteht das Quartier am Humboldthain. Foto: Andrei Schnell
Die ehemalige Nixdorf-Fabrik an der Gustav-Meyer-Allee wird abgerissen. Hier entsteht das Quartier am Humboldthain. Foto: Andrei Schnell

Bärbel K.* wohnt seit vier Jahren im Brunnenviertel und zählt zu den aktiven Silver Agern. Oder ohne englische Vokabeln ausgedrückt: Sie befindet sich im Unruhestand. Als sie hörte, dass auf dem AEG-Gelände ein Großumbau bevorsteht, interessierte sich die pensionierte Architektin sofort für das Vorhaben. Auch weitere Nachbarn im Brunnenviertel, die sich im kürzlich eröffneten Kieztreff Waschküche in der Feldstraße kennenlernten, waren neugierig. Und als der Investor im vergangenen Sommer zu einem öffentlichen Bürgerdialog einlud, nahm die Anwohnergruppe aus der Waschküche teil und brachte ihre
Anregungen ein. Der Abriss der alten Nixdorf-Fabrik mit den kupferfarbenen Fenstern und die nicht unerheblichen Neubauvorschläge an dieser Stelle sind schließlich keine kleine Sache, finden sie. Und sie treibt die Frage um, ob es Geschäfte für den Kiez geben wird.

Und nun? Ein halbes Jahr später im Frühling 2022? Jetzt stehen für die engagierten Nachbarn Fragen an wie: Was ist aus den Wünschen der Anwohner geworden? Wie ist die Bürgerbeteiligung in die Pläne des Bauherrn eingeflossen? Doch der Reihe nach.

In der Chronologie beginnt alles im Jahr 2018. Der Investor, der vor vier Jahren noch Commodus hieß, kaufte einen Teil der früheren Fabrikflächen an der Gustav-Meyer-Allee und erwarb damit 60.000 Quadratmeter Mietfläche. Ende 2019 kaufte das Unternehmen noch einmal Gebäude mit 60.000 Quadratmetern und das Parkhaus. „Das ehemalige AEG-Gelände bietet uns herausragende Entwicklungsmöglichkeiten, die in dieser Größenordnung im Zentrum Berlins einmalig geworden sind“, teilte das Unternehmen vor zwei Jahren mit. Im Immobiliensprech der Branche war von „Potential einer vollständigen Revitalisierung“ die Rede. 2021 folgte der oben erwähnte Workshop mit Bürgern und Fachdialoge mit dem Bezirk und dem Land Berlin.

Darstellung der künftigen Nutzungen laut Ergebnisbericht der Beteiligung. Visualisierung: Jahn, Mack & Partner
Darstellung der künftigen Nutzungen laut Ergebnisbericht der Beteiligung. Visualisierung: Jahn, Mack & Partner

Coros, wie Commodus nun heißt, mietete Veranstaltungsräume in der Voltastraße, druckte Einladungen und verteilte sie in Briefkästen, erstellte tischgroße Grundstückszeichnungen und fragte unter anderem: Welche Nutzungen wollen die Bürger? Manche antworteten: „Bitte eine Kita“. Andere diskutierten Vor- und Nachteile eines Nachtclubs. Bärbel K. sagte: „Wenn Berlin vor unserer Tür einen seiner wirtschaftlichen Entwicklungsstandorte planen lässt, dann möchte ich auch, dass wir ein paar Läden bekommen.“ Lidl und Penny auf der Brunnenstraße könnten nicht alles sein.

An Platz mangelt es nicht. Im Ergebnisbericht des Workshops der Bürgerbeteiligung steht: „Der Grundstückseigentümer strebt im Sinne der Nachhaltigkeit eine möglichst hohe städtebauliche Dichte für das Grundstück an.“ Der Bericht nennt eine Geschossflächenzahl zwischen 3 und 3,8. „So hoch ist die Verdichtung in Kreuzberg“, ordnet Bärbel K. diese Zahl ein, die für Experten gedacht ist. Grob überschlagen wären damit 200.000 Quadratmeter Mietfläche in den neuen Gebäuden möglich. Zum Vergleich: Wer einen Spaziergang durchs IKEA-Labyrinth unternimmt, bewegt sich auf einer Fläche von rund 35.000 Quadratmetern. Bei 200.000 Quadratmetern handelt es sich also um eine große Fläche, eine gigantische sogar.

Und doch findet sich keine Ecke für einen Supermarkt? Tatsächlich steht im Ergebnisbericht, dass rechtlich „nur im kleinen Umfang ergänzende Zusatznutzungen, wie Gastronomie, Kultur und Freizeit (…) zugelassen“ sind. Ein Espresso für zwischendurch ist also drin. Und was ist mit Edeka und Co? Im Ergebnisbericht findet sich eine Grafik (nebenstehend abgedruckt), in der deutlich steht: keine Nahversorger. Also kein Einzelhandel. Die Anwohnergruppe, die sich über die Waschküche kennt, hat bei Coros nachgefragt. „Ein Ansprechpartner hat uns gesagt, er würde sofort mit REWE einen Vertrag machen, aber da werde ihm das eine oder andere von oben diktiert“.

Diktiert ist ein zugespitzter Ausdruck für die rechtlichen Rahmenbedingungen. Beziehungsweise für den Umstand, dass es der Bezirk ist, der einen Bebauungsplan anhand von rechtlichen Vorgaben seitens des Senats aufstellen muss. Deshalb begrüße der Vertreter von Coros das Ansinnen der Bürger und verweist auf die Zuständigkeit des Bezirksstadtrats für Stadtentwicklung. Letzterer stellt den Bebauungsplan auf und kann auf diesem Weg Einzelhandel ermöglichen – oder nicht. Die aktiven Nachbarn wollen im März Stadtrat Ephraim Gothe kontaktieren. Denn sie wissen, dass jetzt die Weichen gestellt werden und wollen auf jeden Fall mitreden. Zurzeit läuft ein zweistufiger städtebaulicher Wettbewerb. Dabei sein wollen die interessierten Anwohner zum Beispiel als Gäste. Ihre Hoffnung: Auch wenn sie im Verfahren nicht stimmberechtigt sind, können sie vielleicht dennoch ihre Sicht einbringen. Und die lautet: Vergesst den Einzelhandel nicht!

*Name ist der Redaktion bekannt

Online gibt es weitere Details über das Bauprojekt: www.quartier-humboldthain.berlin

Text und Foto: Andrei Schnell

2 Kommentare zu “300.000 Quadratmeter und kein Supermarkt?

  1. Wenn man nicht wüsste, dass der Palast der Republik abgerissen wurde, könnte man meinen, dass er hier wieder überlebt hat. Gibt es noch keinen Antrag auf Denkmalschutz?

    Like

  2. Das Haus wurde im November 1986 im Beisein von Helmut Kohl eröffnet. Sehr alt ist es also nicht. Ob es darüber hinaus ein Erhaltungsinteresse der Allgemeinheit gibt, ist eher fraglich. Insofern müssen wir uns wohl demnächst von unserem Palast der Republik in Westberlin verabschieden. ;-)

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar